Monatsarchiv für Dezember 2007

This is Anfield

Samstag, den 29. Dezember 2007

Eine Eintrittskarte für ein Heimspiel des FC Liverpool zu ergattern, kommt in etwa einem Lottogewinn gleich. Naja, vielleicht übertreibe ich ein wenig, und die Chance auf sechs Richtige ist tatsächlich größer. Die Reds zählen in Europa zu den Clubs, die weit mehr Fans haben als Plätze im Stadion an der Anfield Road zur Verfügung stehen. Selbst in Madrid und Barcelona kommt man leichter an Karten (mit Ausnahme der Partie, in der sie direkt aufeinander treffen). Jahreskarten werden nur begrenzt ausgegeben und in der Regel auch vererbt. Lässt man sich auf die Warteliste setzen, muss man mit etwa 10 bis 12 Jahren Wartezeit rechnen. Und an die überteuerten Hospitality-Tickets kommt man als Normalsterblicher ohnehin nicht ran.

Trotz allem gibt es für jedes Spiel ein gewisses Kontingent, das in den freien Verkauf geht. Um da zum Zuge zu kommen, muss man sich zunächst beim Verein registrieren lassen und eine Fan Card, eine Art Clubausweis, beantragen, um damit das Recht auf einen Kartenkauf zu erwerben. Und dann gilt es zu Beginn des jeweiligen Vorverkaufs drei Wochen vor Spieltermin kräftig in die Telefon- bzw. Computertasten zu hauen. Erfahrungsgemäß bricht der Server des Ticket Office eine halbe Stunde vor Startschuss wegen Überlastung zusammen. Und wie ich aus diversen Fan-Foren erfahren habe, hängt so mancher 4 bis 5 Stunden in der telefonischen Warteschleife, nur um dann eine Ansage vom Band zu hören, dass das Spiel schon ausverkauft ist.

Doch davon ließ ich mich nicht abbringen, es trotzdem zu versuchen. Schließlich hatte ich es sogar bei der WM 2006 viermal ins Stadion geschafft, und dabei zwei Deutschland-Spiele gesehen. Zunächst sah es gar nicht gut aus: Selbst Partien gegen Aufsteiger wie Derby County oder Birmingham City waren in wenigen Minuten ausverkauft, ohne dass ich auch nur einmal in die Nähe des Online-Ticketformulars gekommen wäre. Doch am Morgen des 14. November war es endlich soweit. Diesmal mit vereinten Kräften: h2jr kam schließlich durch und sicherte uns zwei Tickets für den Main Stand, gleich neben dem Gästeblock der Bolton Wanderers. Minutenlang war ich wie benommen. Auch wenn ich nicht wirklich glaube, dass es einen Fußballgott gibt, so war ich in diesem Moment von der Existenz des Fußballfan-Gottes überzeugt.

Mit easyjet ging’s dann drei Wochen später direkt nach Liverpool (John Lennon Airport). Genächtigt wurde im Formule 1 Hotel, der englischen Antwort auf japanische Kapselhotels. Da unser Match erst am Sonntag stattfinden sollte, nutzten wir am Vortag bereits die Gelegenheit in Wigan etwas Premier-League-Luft zu schnuppern. In der Rugby-Hochburg, einem der wenigen Orte Englands, wo Fußball nur die zweite Geige spielt, hatten die Latics im JJB Stadium die ungeliebten Nachbarn von Manchester City zu Gast. Diese brachten einen rund 6000 Mann zählenden lautstarken Support mit und stellten damit rund ein Drittel des Publikums. Nach nur 24 Sekunden gingen die Gäste aufgrund eines katastrophalen Abwehrschnitzers in Führung. Das Team des letzten Torschützen im alten Wembley, Didi Hamann, konnte aber letztendlich den verdienten Ausgleich durch Österreichs EM-Hoffnung und Publikumsliebling Paul Scharner nicht mehr verhindern, und so trennte man sich 1:1. Und Wigan’s Holländer Melchiot flog nach einer rüden Attacke in der letzten Minute noch vom Platz.

Mit dem Nahverkehrszug fuhren wir dann bei Regen in einer guten dreiviertel Stunde zurück nach Liverpool, wo wir uns nach einer Stärkung mit Fish and Chips in die Mathew Street aufmachten, dem Zentrum des nächtlichen Geschehens, wo wir uns unter anderem im legendären Cavern Club die Zeit vetrieben. Als Beatles- und Fußball-Fan kommt man in Merseyside jedenfalls voll auf seine Kosten. Am nächsten Vormittag dann noch ein schneller Besuch im Beatles-Museum im Albert Dock, aber dann setzte schon wieder dieses Kribbeln ein, das Fußballfieber, wie man es eben vor großen Spielen bekommt.

Der Gegner hieß zwar nur Bolton Wanderers, Vorletzter der Premier League, dieser hatte aber als UEFA-Cup-Teilnehmer immerhin den Bayern auswärts ein 2:2 abgerungen und zudem am vorangegangenen Spieltag Man Utd 1:0 geschlagen. Frühzeitig waren wir mit dem Bus zur Anfield Road gefahren, um auch genügend Atmosphäre aufzusaugen. Leider goss es zunächst in Strömen. Aber so ist das eben im englischen Winter: Sehr wechselhaft. Auf Wind und Regen kommt auch wieder Sonne.

Nachdem wir dem Hillsborough Memorial einen Besuch abstatteten, im Fanshop unseres Weihnachtsgeldes entledigten, und den Ground aus allen Winkeln abgelichtet hatten, begaben wir uns auf unsere Plätze. Leider nicht in The Kop, der berühmtesten Fankurve der Welt, sondern im alten Main Stand auf der Gegengerade, aber beklagen möchte ich mich nun wirklich nicht. Bei der Vereinshymne “You’ll never walk alone” läuft es einem kalt den Rücken hinunter. Zu den Schlussakkorden kommen dann die Mannschaften aufs Feld.

Wir bekommen eine dominante Vorstellung der Hausherren zu sehen. Die Trotters kommen eigentlich nur einmal gefährlich vor das gegnerische Tor, als es Anelka fertig bringt, freistehend aus 10 Metern den Ball am Tor vorbeizuschieben. Zur Halbzeit steht es nach Toren von Sami Hyppiä und Fernando Torres 2:0, Steven Gerrard erhöht in der zweiten Hälfte nach einem Foul an Peter Crouch per Elfmeter, bevor Ryan Babel das 4:0 besorgt. Eine klare Angelegenheit, bei der Gerrard und Torres die überragenden Akteure waren.

Liverpool: Reina, Arbeloa, Hyypiä, Carragher (Hobbs 51), Riise, Benayoun, Gerrard, Lucas, Kewell (Babel 67), Torres (Kuyt 76), Crouch.
Subs Not Used: Itandje, Mascherano.

Bolton: Jaaskelainen, Samuel, Meite, Michalik, Gardner, McCann, Campo, Speed, Davies, Anelka, Diouf (Giannakopoulos 66).
Subs Not Used: Al Habsi, Wilhelmsson, Teymourian, Alonso.

Goals: Hyypiä 17, Torres 45, Gerrard 56 pen, Babel 86.

Booked: Diouf, Campo, Michalik.

Att: 43,270
Ref: Steve Bennett (Kent)

Äthiopien im Januar 2005

Samstag, den 29. Dezember 2007

Äthiopien. Abessinien. Wiege der Menschheit. Das sagenumwobene Land auf dem afrikanischen Kontinent. Das erste in Afrika, in dem sowohl das Christentum als auch der Islam zuerst Fuß fassten. Heimat der legendären Königin von Saba, die einst König Salomon den Kopf verdrehte (siehe Koran und Bibel). Quelle des Blauen Nils. Aufbewahrungsort der Bundeslade, mit der Moses die Gesetzestafeln in Empfang nahm. Auch das einzige afrikanische Land, das nie einer Kolonialmacht gehorchen musste. Aber das alles lässt sich – ebenso wie aktuelle Reisetipps – an anderen Stellen besser nachlesen. Ich beschränke mich daher auf ein paar ganz persönliche Beobachtungen.

Als leidenschaftlicher Reggae-Hörer entging mir natürlich nicht, dass in vielen Stücken die Rede von der Rückkehr ins gelobte afrikanische Herzland ist, ebenso wenig wie die Lobpreisungen auf den letzten äthiopischen Kaiser Haile Ras Tafan Selassie, der einst bei seinem Staatsbesuch in Jamaika wie der Messias empfangen wurde. Ich wurde also neugierig auf dieses unbekannte Land und begann schließlich mit der Reiseplanung.

 

Afrika Tis Abey - der Blaue Nil unweit seiner Quelle Kaiser Haile Selassie

 

Wenige Wochen später war ich also im guten, alten Abessinien. Problemlose Anreise, was schon damit begann, dass auf Kanal 7 des Inflight Entertainment Programms der Ethiopian Airlines zur Einstimmung Burning Spear lief.

Addis Abeba, 2370 Meter über dem Meer, blauer Himmel, strahlender Sonnenschein, 25 Grad, und weit und breit keine Hektik oder Stress. So kann’s weitergehen!

Nach ein paar Tagen zur Akklimatisierung in der Hauptstadt, begab ich mich nach Lalibela, wo einige beeindruckende Felskirchen mit farbenprächtigen Wandmalereinen zu bewundern sind.


Kirchliche Wandmalerei Felskirche in Lalibela Bibel in amharischer Schrift


Der nächste Bus nach Weldiya

Nur wenige der Fernstraßen Äthiopiens sind asphaltiert. Staubige Stein- und Sandpisten, große Höhenunterschiede, unwegsames Gelände und schrottreife Verkehrsmittel machen dabei eine Reise von A nach B zur Herausforderung. Der bevorstehenden Strapazen bewusst, buchte ich eine Mitfahrgelegenheit in einem Geländewagen - für die erste Etappe der etwa 500 km von Lalibela nach Aksum, die etwa drei Tage Fahrzeit in Anspruch nimmt. Am nächsten Morgen erscheine ich pünktlich um 5 Uhr am vereinbarten Treffpunkt. Nachts wird wird hier vernünftigerweise nicht gefahren, und wer schon einmal in Indien unterwegs war, weiß dies zu schätzen.

Und da stehe ich nun in der morgendlichen Kälte und “wart auf des Brummen von an Mercedes Diesel, aber’s brummt ned, brummt ned” (in Anlehnung an einen österreichischen Schlager aus den 80ern). Stattdessen erscheint ein Bote, der mir mitteilt “problem with machine, take bus”. Na gut, schon so früh auf den Beinen, begebe ich mich zum “Busbahnhof”: Das ist der zentrale Platz am Ort, kein Ticketbüro, keine Teestube, nur ein einziger Bus und weit mehr willige Fahrgäste als jemals darin Platz finden könnten, die alle angeregt miteinander diskutieren.

Es dauert eine Weile bis ich herausfinde, um was es geht. Angesichts der großen Nachfrage nach Fahrkarten für Weldiya hatte sich die Bus-Crew erdreistet, kurzerhand den Fahrpreis von 25 auf 35 Birr zu erhöhen.

Verärgerte Fahrgäste informierten daraufhin den Verbraucherschutzbeauftragten der örtlichen Polizeistation, der die gesamte Mannschaft mithilfe einiger Uniformierter in Gewahrsam nehmen lies.

Nun stand der Bus alleine da, und die widersprüchlichen Informationen überschlugen sich. Es solle ein Ersatzbus eingesetzt werden, man wäre auf der Suche nach einem anderen Fahrer, in 10 Minuten geht’s los, bla bla, etc.

Gegen 9 Uhr hatte ich die Schnauze voll, und die Hoffnung aufgegeben, heute noch wegzukommen, checkte ich wieder ins selbe Hotel ein, das ich vier Stunden zuvor verlassen hatte. Dort holte ich erstmal den fehlenden Schlaf nach.

Als ich nachmittags gegen zwei nochmal am Schauplatz vorbei kam, saßen noch immer rund zwei Dutzend Wartender im mittlerweile nur noch einen halben Meter breiten Schatten des (vielleicht) nächsten Busses nach Weldiya. Ich begab mich schließlich zum Flugplatz, um die zeitsparendere, aber wesentlich kostspieligere Variante der Reise nach Aksum zu wählen. Wann der Bus letztendlich auf die Reise ging, habe ich nicht mehr herausgefunden.

Marktplatz in der Provinz Schulkinder Musikladen

 

Sprachkenntnisse

Tennaystillin! Grundsätzlich, aber vor allem in touristisch weniger erschlossenen Regionen, empfiehlt es sich auf Reisen, mit ein paar Brocken der Landessprache aufwarten zu können. Ich habe mir also gleich zuhause noch einen Amharisch-Sprachführer und eine dazugehörige Audio-Cassette besorgt. Schon bald konnte ich mich mit essenziellen Phrasen wie “Wo geht’s denn zur Post?” oder “Wie viele Tabletten soll ich hiervon einnehmen?” behaupten.

Und wie es sich für einen ordentlichen Touristen gehört, verbringe ich meine Zeit mitunter damit, mir in sengender Mittagshitze archäologisch bedeutsame Steinhaufen anzuschauen. So begab es sich, dass ich mit staubiger Kehle eine Bar betrat.

Übung macht den Meister, dachte ich mir, und so verlieh ich meinem Verlangen mit den Worten “Ant birra iffadigallahu” Ausdruck. Die Schönheit hinter der Theke sah mich daraufhin mit ihren großen braunen Augen fragend an: “Möter?” (Anmerkung: “Möter” ist eine der Inkarnationen des Autors).

Wie vom Blitz getroffen, schossen mir wirre Gedanken durch den Kopf, wie etwa “Sind wir uns in einem früheren Leben schon einmal begegnet?” oder “Hat ihr vielleicht die Wahrsagerin von meinem Kommen berichtet?”. Nach einer rhetorischen Pause von zwei Sekunden (gefühlten acht Minuten) nicke ich zustimmend mit dem Kopf, worauf sie mir eine eiskalte Flasche Bier in die Hand drückt. Gedanken lesen kann sie also auch noch!

Mit einem Grinsen im Gesicht sinke ich zufrieden in einen der noch freien Plastiksessel. Nach einem kräftigen Schluck betrachte ich das Etikett auf der Flasche: Darauf steht zu lesen: Meta Beer – Produce of Ethiopia.

Sei’s drum, ich glaube wieder an die Liebe auf den ersten Blick. Das passiert mir nämlich zurzeit so ungefähr zwei-, dreimal täglich.

 

Im Café Kleine Schönheit Mittagspause

 

Durchs Simien-Gebirge

Die Strecke von Aksum nach Gondar beträgt 360 km und geht mitten durchs Simien-Gebirge (mit dem 4545 m hohen Ras Dashen die höchste Erhebung des Landes), und ist in gut zwei Tagen zu bewältigen. Das erste Teilstück bis Inda Selassie (Provinz Shirie) bereitet keine größeren Schwierigkeiten. In diesem staubigen Provinznest wird erst einmal übernachtet. Direkt am Busbahnhof versteht sich, denn bereits im Morgengrauen soll es weitergehen.

Die bescheidene Herberge ist sauber und verfügt über einen gastronomischen Betrieb. Und hier ist es auch, wo ich meine erste Kaffeezeremonie erleben durfte. Die Kaffeezeremonie gilt als wichtiges gesellschaftliches Ereignis.Vollzogen wird sie üblicherweise von der Mutter oder einer der älteren Töchter des gastgebenden Hauses. Eingeladen werden Freunde, Nachbarn – und auch mal ein Durchreisender.

Über einer kleinen Feuerstelle mit Holzkohle werden in einer flachen Pfanne die Kaffeebohnen geröstet und anschließend mit zwei abgerundeten Steinen gemahlen. Der sich dabei freisetzende Kaffeeduft ist unbeschreiblich intensiv. Der Kaffee wird in einem Tonkrug mehrfach aufgebrüht und schließlich in kleinen Tässchen zusammen mit Popcorn serviert. In die noch glühenden Kohlen wird nun Weihrauch gegeben, wodurch der Raum bald nach einer eigenartigen Melange aus Incense und Kaffee duftet.

Nach drei Runden doppeltem Espresso ist jeder Tote wieder zum Leben erweckt, und es wird zu äthiopischer Popmusik getanzt, wobei hauptsächlich mit Kopf und Schultern gewackelt wird. Die Musik erinnert in ihrer Struktur ein wenig an die Klänge wie sie in Ägypten, Nubien und dem Sudan zu hören sind (vgl. Abdel Halim Hafez, Ali Hassan Kuban).

Mittlerweile ist ein zweiter Reisender eingetroffen: Bob, ein 54-jähriger Haudegen aus Las Vegas, der im wahrsten Sinne des Wortes “eine Weltreise macht” und mir bei ein paar Runden St. George Beer unzählige Argumente dafür liefert, warum man ab 40 nicht mehr arbeiten sollte. Wenn man sich das rechtzeitig zum Ziel mache und die Weichen entsprechend stelle, wäre das locker machbar. Schön fand ich auch seinen Vergleich unserer Industriegesellschaft mit einem Hamsterkäfig: Fressen, schlafen und ziellose Runden im Laufrad drehen…

Glücklicherweise erwies sich der Heilige Georg gnädig und beschwerte mir keine Kopf- oder Magenschmerzen, und so konnte die zweite Etappe gelassen in Angriff genommen werden. Um 5.30 Uhr sollte es losgehen – so stand es zumindest auf dem Ticket – allerdings dauerte es bis 7.30 Uhr bis das gesamte Gepäck verstaut und die Fahrgäste in den klapprigen Bus hineingepfercht waren. Vor Sonnenaufgang ist es hier zudem noch ziemlich kalt, und für einen kurzen Augenblick stellte ich mir die Frage, wozu ich denn das alles auf mich nehme. Andere Leute fahren schließlich auch in Urlaub, und legen dabei vor allem Wert auf Komfort und Bequemlichkeit. Sollen sie doch!

Bald aber schon zeigte sich, dass ich von den anderen Passagieren herzlich aufgenommen wurde. Mein Status als Farengi (amharisch für Gringo, farengi = foreigner) brachte mir den vorteilhaften Platz vorne rechts neben dem Fahrer ein. Bei den zahlreichen Tee- und Pinkelpausen beantwortete ich immer wieder aufs Neue dieselben Fragen und werde stets zu Freigetränken eingeladen.

Wieder im Bus machte ich es mir vorne im Cockpit bequem, während mich die beiden Gepäck-Fritzen mit reichlich Qat (Kat, Chat) versorgten. Die Blätter dieser im äthiopischen Hochland und in Südarabien heimischen Kulturpflanze werden so lange gekaut, bis sich ein zunächst bitterer, aber zunehmend angenehmer schmeckender Sud bildet. Das ganze wirkt leicht narkotisierend und bekämpft das Hungergefühl. Aufgrund eines früheren Aufenthalts in einem jemenitischen Ausbildungslager konnte ich mit Fachsimpelei über Qualität und Herkunft der Blätter überzeugen und selbst dem etwas verschlossen wirkenden Fahrer ein Lächeln entlocken.



Kaffeezeremonie Versorgung mit Qat im Bus Marktweiber

 

Irgendwie lustig war dann auch die Situation, als sich ein muslimischer Händler dazugesellte und – ebenso die Backen mit Qat vollgestopft – mir in gebrochenem Englisch versuchte, die Vorzüge des Islam näher zu bringen. Zu verstehen war kaum etwas, doch durch geschicktes Einstreuen zufällig ausgewählter Schlagwörter wie “Mekka” oder “Mohammed” konnte ich mein Interesse bekunden und zu seiner Zufriedenheit beisteuern.

Mittlerweile schraubten wir uns über Serpentinen auf Passstraßen auf etwa 3000 m in die Höhe. Alleine die Aussicht auf die grandiose Bergwelt war die Strapazen der Fahrt schon wert und dem zweifelsohne bequemeren Inlandsflug vorzuziehen. Auf ein paar andere Programmpunkte dieser “All inclusive”-Reise hätte ich aber gerne verzichtet: z.B. auf sich übergebene Frauen, den geplatzen Hinterreifen und die damit verbundene Zwangspause jenseits von einem einzigen Zentimeter Schatten, oder die gleichmäßig auf Gesicht und Kleidung verteilte rotbraune Staubschicht. Etwa eine Stunde vor Erreichen des Zielortes ging uns dann auch noch der Sprit aus. Ein entgegenkommender Lkw konnte aber noch etwas entbehren, und so kamen wir nach 12 erlebnisreichen und unterhaltsamen Stunden in der Provinzhauptstadt Gondar an.

Der muslimische Geschäftsmann half mir noch bei der Zimmersuche und sorgte dafür, dass ich keinen Touristenpreis zahlen musste. Aus dem Date mit der 21-jährigen Studentin, mit der ich unterwegs zusammen zu Mittag gegesen hatte, wurde aber leider nichts. Unter der Telefonnummer, die sie mir gegeben hatte, erreichte ich nur ihre Mutter, die mir wiederholt mitteilte, dass Frwoyne lernen müsse und keine Zeit hätte. Schade. Aber dafür macht sie bestimmt einen guten Abschluss.

In Gondar besuchte ich die Festlichkeiten zum Timkat-Fest, an dem die Taufe Jesu gefeiert wird. Zusammen mit Ostern und Weihnachten ist das der höchste Feiertag im äthiopisch-orthodoxen Kalender. Es gibt eine Prozession quer durch den Ort, bei der quasi die ganze Stadt auf den Beinen ist und hohe Geistliche von Klosterschülern, Trommel- und Bläsergruppen sowie Gläubigen in festlicher Kleidung begleitet werden.

 

Kaffeepause in geselliger Runde Prozession zum Timkat-Fest In der Bar

 

Über die Zeit

Heute, am 1. Februar 2005, schreiben wir in Äthiopien den 24.5.1997. Hier wird nämlich der Julianische Kalender verwendet. Demnach hat das Jahr 13 Monate: Zwölf Monate á 30 Tage sowie einen Monat mit 5 bzw. 6 Tagen (Schaltjahr).

Damit nicht genug. Auch die Uhr wird anders gelesen. Man verwendet ein 12-Stunden-System, wonach der Tag und die Nacht in jeweils zwölf Stunden eingeteilt werden. Der Tag beginnt nach der uns bekannten Zählweise um sechs Uhr morgens und endet um sechs Uhr abends, wenn die Nachtzählung beginnt. 3 Uhr äthiopischer Zeit entspricht also 9 Uhr unserer Zeit (ob Tag oder Nacht muss natürlich dazugesagt werden). Um also die korrekte “internationale” Zeit zu erhalten, kann man entweder einer beliebigen äthiopischen Zeit sechs Stunden hinzuzählen oder die gegenüberliegenden Zahlen auf dem Zifferblatt miteinander tauschen (z.B. die 11 gegen die 5. Denn 5 Uhr äthiopischer Zeit entspricht 11 Uhr internationaler Zeit).

Dieses System wird übrigens auch in weiteren Ländern Ostafrikas verwendet, so etwa in Kenia und Tansania.

Verwirrend? Alles nur eine Sicht der Dinge…

Lee “Scratch” Perry

Samstag, den 29. Dezember 2007

OK, let’s take it from here…

Rainford Hugh Perry, besser bekannt als Lee “Scratch” Perry, geboren am 20. März 1936 in Kendal (Hanover), Jamaica, ist zweifelsohne einer der bedeutendsten und einflussreichsten Musiker, Sänger und Produzenten des 20. Jahrhunderts. Wie kein anderer prägte er die Entwicklung von Ska, Reggae und Dub. Und kaum jemand trat unter so vielen Pseudonymen auf wie er: The Upsetter, Pipecock Jackxon, Captain McKay, The Wonderman, Super Ape, Jamaican E.T., etc.

Lee Scratch Perry on the wire

Nachdem er anfänglich für Clement “Coxsone” Dodd’s Downbeat Sound System und dessen Studio One arbeitete, und sich später mit dem Produzenten Joe Gibbs zusammentat, begann sein Siegeszug spätestens 1968 mit der Gründung seines eigenen Upsetter Labels und seiner gleichnamigen Studioband.

Bald schon gingen bei ihm Reggae-Größen wie Bob Marley & the Wailers, Max Romeo, Junior Murvin, The Congos, The Heptones, The Silvertones und Junior Byles ein und aus. Mit Return of Django landete er zusammen mit den Upsetters als erster überhaupt einen Hit außerhalb Jamaikas, noch bevor Bob Marley dies Jahre später gelang. Und zwar in England, wohin viele Auswanderer aus der Karibik gekommen waren.

Zu jener Zeit war es üblich, die B-Seite einer Single einfach mit der Instrumentalfassung des Songs zu füllen. Lee Perry gab sich damit aber nicht zufrieden, sondern begann, nachdem die Bands und Sänger das Studio verlassen hatten, die Stücke neu zu arrangieren. Der Remix war geboren (der Begriff an sich noch nicht, zunächst wurde dieser als “Version” oder “Dub” bezeichnet). Er spielte mit Höhen und Tiefen, setzte die Reihenfolge neu zusammen, nutzte Echos und Verzerrungen, und verwendete zahlreiche Soundeffekte – von Tiergeräuschen und Pistolenschüssen über Wasserplätschern und zerbrechendem Glas bis hin zu eigenen Gesangseinlagen und Interpretationen. Als Motto dienten dazu gerne Spaghetti-Western, Kung-Fu-Filme oder große Boxkämpfe.

Um das alles an den Mann zu bringen, übernahm er in Kingston den Plattenladen von seinem Kumpel Prince Buster und nannte ihn – wie auch anders – Upsetter Record Shop. Die exklusiven Upsetter-Scheiben, die es anfangs eben nur hier zu bekommen gab, waren der Renner bei den lokalen DJs. Der Begriff “DJ” war damals in Jamaika noch anders belegt als heute. Die Rolle des DJs bestand nicht nur aus der Auswahl und Aneinanderreihung der passenden Tracks, sondern war vielmehr begleitet von Sprechgesang und anheizenden Kommentierungen.

Upsetter record label

1973 eröffnete Perry das Black Ark Studio, das meines Erachtens seine kreativste Phase einläutete und damit den Höhepunkt seines Schaffens verkörpert. Dort entstanden Meilensteine der Musikgeschichte wie Police and Thieves, War in a Babylon, The Heart of the Congos, Super Ape, Chase the Devil usw. Einen guten, aber bei weitem nicht vollständigen Überblick bietet dazu die 3er-CD-Box Arkology, die ich jedem interessierten Leser ans Herz legen möchte (erschienen beim Island Label).

Gegen Ende der Siebziger Jahre wurde es dem Meister zu stressig: Schutzgelderpresser und Schmarotzer machten ihm zu schaffen, die Aufnahmesessions waren zunehmend von Ganja- und Alkohlexzessen begleitet, Island Records fand immer weniger Gefallen an seinen Experimenten, und schließlich kam es auch noch zu einer Krise mit seiner damaligen Frau Pauline, von der er sich später trennte. Zu dieser Zeit scheint sich Lee Perry zunehmend von der irdischen Welt zu verabschieden und noch durchgeknallter zu werden. Er ist davon überzeugt, dass Black Ark verhext sei und er die Flucht nach vorne angehen müsse. Er zieht zunächst nach New York, wo er mit unbedeutenden lokalen Reggae-Bands zusammenarbeitet, aber u.a. auch mit der englischen Punk-Combo The Clash auftritt. Nach einer Weile im Exil kehrt er in die Heimat zurück.

Und eines Tages 1983 brannte das legendäre Black Ark Studio ab, und mit ihm viele unveröffentlichte Aufnahmen. Die genaueren Umstände wurden nie aufgeklärt. Ob es nun Brandstiftung war, ein technischer Defekt, oder – wie Perry oft selbst behauptete – er selbst, kann bis heute keiner wirklich belegen.

The pizza man from Switzerland

Das Black Ark Studio war zerstört, und mit ihm sein Gründer. Er schien keinen Halt mehr zu finden und ergriff erneut die Flucht – diesmal nach England, wo er zunächst auch nicht richtig Fuß fassen konnte und zu oft an die falschen Leute geriet. Mit dem Album Battle Of Armagideon gelang ihm aber 1986 schließlich ein Neuanfang. Time Boom X De Devil Dead und From My Secret Laboratory folgten. Zu dieser Zeit, Anfang der Neunziger Jahre, stieß ich selbst zum ersten Mal auf seine Musik – und ich war begeistert. Damit begann mein Interesse am und meine Liebe zum Reggae. Nach der Black Ark Ära war das wohl seine bedeutendste Schaffensperiode. Zu jener Zeit war Perry bereits in die Schweiz emigriert, wo er bis heute in einem Züricher Vorort wohnt.

Es folgten einige weitere Alben unterschiedlicher Qualität. Hervorzuheben bleibt neben seiner produktiven Kollaboration mit Mad Professor die Zusammenarbeit mit den Beastie Boys, in deren Grand Royal Fanzine er zunächst gefeatured wurde und damit einem neuen Publikum zugänglich gemacht wurde. Schließlich verewigte er sich auf deren Album Hello Nasty mit einem gemeinsamen Song (Dr. Lee, Ph.D.).

An der Erstellung einer umfassenden und abschließenden Diskographie haben sich übrigens schon viele versucht – und sind gescheitert. Lee Perry produzierte einfach unter zuvielen verschiedenen Namen und das bei zahlreichen Labels. Bootlegs und Schwarzpressungen gibt es ebenso in Hülle und Fülle. Selbst für ernsthafte Sammler ein unerschöpfliches Feld.

In Berlin gastierte er zuletzt am 2. Dezember 2005 im Kesselhaus, wo ich ihn zusammen mit seiner schweizerischen Combo White Belly Rats in tradtionellem äthiopischen Gewand bewundern konnte.

Als Tipp zum Reinhören empfehle ich Radio Scratch, einen Podcast von Mick Sleeper aus Kanada. In jeder einzelnen Ausgabe beschäftigt er sich mit einem bestimmten Aspekt des Werkes von Lee Perry.