Barev dzez, inchpes ek? Das heißt auf armenisch etwa so viel wie “Hallo, wie geht’s?”. Es folgt ein Bericht über meine im Mai 2007 angetretene Reise nach Armenien.
Der Legende nach kamen die Armenier zu spät, als Gott die Welt unter den Völkern aufteilte. Da war nur noch ein Fleckchen steiniger Boden im südlichen Kaukasus übrig. Und tatsächlich sind nur rund 20% der Fläche der heutigen Republik Armenien für den Ackerbau nutzbar. Den Rest machen Berge, Wälder und Weideflächen aus. Etwa 90% des Landes liegen über 1000 Meter. Armenien befindet sich in einem seismografisch aktivem Gebiet. Bei dem jüngsten Erdbeben 1988 kamen rund 25.000 Menschen ums Leben.
In der Vergangenheit teilten sich abwechselnd Perser, Osmanen und Russen das Land unter sich auf. Die größte Tragödie der armenischen Geschichte war zweifelsohne der Völkermord in den Jahren 1915 bis 1917, bei dem rund 1,5 Millionen Armenier den Tod fanden. In den Siedlungsgebieten der heutigen Osttürkei (vor allem im Gebiet um den Van-See) wurden quasi alle Menschen des Volksstammes ermordet oder vertrieben. Von den heute rund sieben Millionen Armeniern weltweit macht die vor allem in den USA und Frankreich lebende Diaspora vier Millionen Menschen aus, mehr als in der heutigen Republik leben.
In den Jahren 1918 bis 1920 genoss man zwischenzeitlich die Unabhängigkeit, als dann das Land Teil der Sowjetunion wurde. Mit deren Zusammenbruch kam 1991 erneut die Unabhängigkeit, die wiederum einen blutigen Konflikt mit dem Nachbarn Aserbaidschan um die Region Bergkarabach mit sich brachte. Seit 1994 ruhen die Waffen. Die aus dem Krieg hervorgegangene Republik Nagorny Karabach wird bis heute nur von Armenien anerkannt und ist nur von dort aus zugänglich. Die Grenzen zu Aserbaidschan sind ebenso wie die zur Türkei geschlossen. Mit den Nachbarn in Georgien und Iran pflegt man hingegen freundschaftliche Beziehungen.
Warum also Armenien als Reiseziel? Spontan kann ich das nicht wirklich beantworten, aber ein generelles Interesse an fremden Kulturen, der Geschichte und den Menschen, eine gewisse Portion Abenteuerlust und die Neugier auf die unbekannte Sprache, die Musik und das Essen mögen mir genug Grund sein. Wie kommt man nun dorthin? Mit der Aeroflot? Klar. Aber den Flughafen Sheremetyevo in Moskau dürfte ich schon mal kennen lernen, und das reicht fürs erste auch. Ich habe mich schließlich für die Austrian Airlines entschieden, nur 3 Stunden 20 Minuten ab Wien.
Leider kommen fast alle internationalen Flüge weit nach Mitternacht, aber noch lange vor Tagesbeginn am Flughafen Zvartnots der Hauptstadt Yerevan an. Kurz vor fünf Uhr morgens eingetroffen, war ich erstmal mit Visumbeschaffung, Geldwechseln und Zoll beschäftigt, sodass ich die Zeit bis Sonnenaufgang gut überbrücken konnte. Dann wollte ich mit dem Bus in die Stadt fahren. In der Ankunftshalle traf ich aber zwei Schweizer, die ebenso wie ich gerade das erste Mal Fuß auf armenischen Boden gesetzt haben und vergleichbar desorientiert wirkten. Ich fragte, ob wir uns denn ein Taxi in die Stadt teilen könnten. Wie sich herausstellte, warteten die beiden aber auf den Repräsentanten einer Autovermietung, da sie sich einen Lada Niva, einen Geländewagen, leihen wollten, um das Land auf eigene Faust zu erkunden. Nach ein paar Minuten war der Vertrag abgeschlossen, der Wagen übergeben und ich hatte eine kostenlose Mitfahrgelegenheit in die Innenstadt. Zugegebenermaßen handelte es sich dabei um ein nicht ganz den mitteleuropäischen Standards entsprechendes Vehikel ohne Sicherheitsgurte, kaputter Lüftung und mit ziemlicher schwergängiger Schaltung. Die zwei werden sicherlich noch viel Freude damit gehabt haben.
Nur ein einziges Mal sollte ich übrigens während meiner Reise in den Genuss eines Sicherheitsgurtes kommen, was ich gegenüber dem Fahrer sogleich mit Daumen nach oben und den Worten “shet lav” (sehr gut) anerkennend zum Ausdruck brachte. Dieser hatte nur ein süffisantes Grinsen zur Antwort, und einen Ausdruck in seinen Augen, der mir verriet, dass es sich hierbei in Wirklichkeit nur um unnötigen Schnickschnack handelt.
Gegen sieben Uhr war es mittlerweile hell geworden, und Yerevan präsentierte sich an diesem Samstagmorgen nicht gerade einladend. Der Regen, der in der Nacht – wie auch in der Woche zuvor – herrschte, hatte zwar aufgehört, aber die Luft war feucht und kalt, und es roch nach nassem Beton. Um diese Zeit war die Stadt noch menschenleer.
In der Tasche hatte ich eine Adresse aus dem Internet. Da es quasi keine Hotels der unteren oder mittleren Preisklasse gibt, sind einige Privathaushalte auf die Idee gekommen, Zimmer an Touristen zu vermieten. Ehrlich gesagt wollte ich aber so früh niemanden aus dem Schlaf reißen, und so drehte ich erstmal eine Runde durch die umliegenden Straßen. Weit und breit keine Menschenseele. Schließlich ein kleiner Laden, an dem ich mit einem spartanischen Frühstück versorgen konnte: zwei Stück Gebäck und eine Flasche Wasser.
Kurz darauf bezog ich meine Unterkunft direkt im Zentrum am Opernplatz. Meine Vermieterin, Anahit, lebt dort mit ihren beiden Söhnen in einer riesigen 5-Zimmer-Wohnung und vermietet drei der Räume an Reisende. Ich wurde herzlich empfangen, mit Tee und noch mehr Gebäck versorgt, und nach kurzer Körperpflege legte ich mich erstmal drei Stunden hin, um den fehlenden Schlaf nachzuholen. Schließlich hatte ich die Nacht durchgemacht.
Gegen Mittag machte ich mich dann auf erste Erkundungstour. Mittlerweile war auch Leben in die Stadt gekommen und es wurde angenehm warm. Da sah die Welt schon wieder anders aus. Zur Stärkung gab’s als erste Mahlzeit in einem der zahlreichen Cafes unter freiem Himmel Lammfleischspieße mit Lavash (dünnem Fladenbrot), Bratkartoffeln und Tomaten-Gurken-Salat. Die armenische Küche sollte mich in den kommenden zwei Wochen noch des öfteren begeistern. Diese ist vergleichbar mit der Kost im Nahen und Mittleren Osten, und wer gerne Türkisch, Libanesisch oder Persisch isst, kommt auch in Armenien voll auf seine Kosten. Khorovats (gegrilltes Fleisch am Spieß), Kebabs in diversen Variationen, Fladenbrot, Schafskäse, Auberginen, Joghurt, frische Kräuter, Dolma (mit Reis, Linsen und/oder Hackfleisch gefüllte Kraut- oder Weinblätter), mit Nüssen gefülltes getrocknetes Obst und viele Köstlichkeiten mehr.
Die Aprikose (lat. Armeniaca vulgaris) stammt übrigens von hier. Leider kam ich vor der Erntezeit. Wie mir einige Leute versicherten, sollen sie auch nirgendwoanders so gut schmecken wie in Armenien. Wodka wird traditionell nur zum Essen getrunken – im Gegensatz zu Russland. In der Regel mit nicht enden wollenden Trinksprüchen und Lobesreden auf einen der Anwesenden.
Ich beschloss, die nächsten Tage erst einmal in der Hauptstadt zu bleiben und von hier aus Tagesausflüge zu unternehmen. Das Land ist von seiner Größe her überschaubar, und viele Ziele sind bequem in einem Tag zu erreichen. Dazu gibt es folgende Möglichkeiten: entweder ein Taxi mieten, an einer organisierten Tour teilnehmen oder auf eigene Faust mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Ich entschied mich zunächst für letztere Option. Die Maschrutkas, wie die Minibusse für 10-15 Passagiere hier genannt werden, funktionieren nach dem gleichen Prinzip wie überall auf der Welt (mit Ausnahme westlicher Industrienationen). Abfahrt ist an einem festgelegten Ort, los geht es, sobald der Wagen voll ist, und unterwegs kann jeder ein- oder aussteigen, wo er möchte. Will man unterwegs zusteigen, gibt man dies vom Straßenrand per Handzeichen zu erkennen. Wenn noch irgendwie ein Plätzchen frei ist, wird man mitgenommen. In einer Stunde schafft man damit etwa 30-50 km (je nach Straßenverhältnissen), was dann rund 50 Cent macht.
Es ist mir allerdings wiederholt passiert, dass ich wartend herumstehe, und schon hält ein Privatfahrzeug und ich werde gefragt, wohin ich denn wolle. Oft wird man dann bis vor die Haustür gefahren. Einmal hat ein netter, redseliger, aus dem Iran stammender Armenier namens Mikayel, der sich sehr über die Namensgleichheit mit mir freute, einen Umweg von mehr als einer Stunde gemacht, um mich zurück nach Yerevan zu bringen. Auf dem Weg dorthin musste getankt werden, nicht etwa Benzin, sondern Erdgas. Dieses kommt günstig aus Russland und Turkmenistan und kostet nur etwa die Hälfte vom Benzin. Viele Wagen wurden umgerüstet und haben einen Gastank im Kofferraum. Busse haben oft mehrere Flaschen auf dem Dachträger montiert. Man mag sich nicht vorstellen, was da bei einem Unfall passieren kann. Jedenfalls spendierte ich ihm die Tankrechnung (etwa 5 Euro), und wir schworen uns ewige Freundschaft. Wenn im September in seinem Dorf Weinernte ist, müsse ich unbedingt kommen, das wäre die schönste Zeit des Jahres. Mit dem Wetter hatte ich auch richtig Glück. Während die erste Maihälfte noch ziemlich verregnet war, erlebte ich zwei Wochen uneingeschränkt Sonnenschein und angenehme Temperaturen.
Meine Ausflüge führten mich an diverse Stätten kulturellen Interesses in der näheren Umgebung. Darunter das religiöse Zentrum der armenisch-apostolischen Kirche Edjmiazin mit seiner imposanten Kathedrale, der Tempel von Garni im griechisch-römischen Baustil sowie das Kloster von Geghard, das eingebettet in einer spektakulären Berglandschaft liegt. Von Khor Virap (ein weiteres Kloster), das am Fuße des biblischen Berges Ararat liegt, hat man eine fantastische Sicht auf den heiligen Berg der Armenier, der nur durch einen kleinen Grenzfluss getrennt auf türkischem Gebiet liegt und somit unzugänglich ist.
Die Armenier stammen der Legende zufolge in direkter Linie von einem Ur-Urenkel Noahs namens Hayk ab. In der Landessprache heißt das Land daher auch Hayastan (Land des Hayk). Selbst die damalige armenische Sowjetrepublik hatte den Ararat im Wappen, worauf ein türkischer Offizieller Protest anmeldete, da es sich ja dabei um einen Berg in der Türkei handle. Die Antwort kam prompt und treffend: Beanspruchen die Türken denn den Mond für sich? Schließlich ziert dieser als Halbmond deren Flagge.
Zum tiefblauen Bergsee Sevan auf 1915 Metern über dem Meeresspiegel kommt man auch bequem von Yerevan. Die Straße dorthin ist die mit Abstand beste im Land, fast ohne Schlaglöcher. Die dortige Halbinsel Sevanavank, zu der ich hinauswanderte, erwies sich als ruhiger, idyllischer Ort, wenn auch aufgrund der Höhenlage als etwas frisch.
Dort machte ich dann die Bekanntschaft mit drei jungen Leuten, wovon zwei (Hayk und Ann) aus Yerevan waren und die ihre Freundin Lilit, die in den USA lebt und nach sieben Jahren wieder in die Heimat gekommen war, auf ihrer Reise durch die alte Heimat begleiteten. Alle drei sprachen ausgezeichnetes Englisch, was hierzulande eher selten ist, und waren sehr freundlich und vor allem interessiert, was mich denn hierher führe. In der Regel haben Touristen aus dem Ausland auch einen armenischen Background. Fremde hingegen kämen nur selten. Nachdem wir uns einige Zeit angeregt unterhielten, fragten sie mich, ob ich denn nicht einfach mitkommen wolle. Sie fahren noch nach Tseghadzor und am Abend zurück nach Yerevan. Ich nahm das Angebot dankend an. Wir verbrachten einen schönen Tag und machten auf dem Weg zurück noch Pause in einem Restaurant.
Als ich dann die Rechnung übernehmen wollte, wäre es beinahe zum Eklat gekommen. Schließlich wäre ich der Gast im Land und müsse daher nicht für die Kosten aufkommen. Das war mir dann schon richtig peinlich, wohl auch weil derlei Gastfreundschaft in unseren Breitengraden heute einfach nicht mehr üblich ist. Aber ich denke, so muss es vor Jahrzehnten noch vielerorts auf der Welt gewesen sein, bevor das Phänomen Massentourismus einsetzte, und ausländische Besucher – wo auch immer – entweder als Geldesel oder als störend eingestuft werden. Ich sprach eine ernst gemeinte Einladung nach Berlin aus und versprach, mich auf jeden Fall entsprechend zu revanchieren, sollte das denn mal klappen.
Nachdem ich Fragen zu meinem beruflichen Schaffen beantwortete, bestätigte Hayk, dass er selbst begeisterter PayPal-Nutzer ist (“it’s a great way to transfer money internationally”), und dass mobile.de die beliebteste Website in Armenien ist, da es einen richtigen Geschäftszweig gibt, deutsche Gebrauchtwagen zu erwerben und über den Balkan, die Türkei und Georgien nach Armenien zu bringen. Nachdem ich ihn nach seiner E-Mail-Adresse fragte, gab er mir seine Skype-ID (“that’s faster to communicate”). Neukunden konnte ich an diesem Tag also keine werben…
Die Abende in Yerevan verbrachte ich meist zusammen mit Reisebekanntschaften, meiner Vermieterin Anahit, und neu gewonnenen Freunden mit Restaurant- und Konzertbesuchen. Das geht meist in Einklang. Denn in vielen Lokalen und Bars gehört Livemusik einfach dazu, von traditioneller Volksmusik mit Duduk (Flöte), Dhol (Trommel) und Oud (Laute) über russischen Disco-Pop, bis hin zu Jazz und Rock.
Eines abends bei einem Rhythm’n'Blues-Konzert (stilistisch irgendwo zwischen Rolling Stones, Blues Brothers und Motown) fragte ich mich einige Zeit, ob denn die Band wirklich so lange spielt, bis irgendwann weniger Gäste als Bandmitglieder anwesend sind. Nach vier Stunden war dann auch Schluss. Bei Bierpreisen von etwa einem Euro pro halben Liter hielt sich die Zeche auch in Grenzen… Hier ist übrigens mein persönliches Ranking der vier armenischen Brauereien: 1. Gyumri, 2. Kotayk, 3. Kilikia, 4. Erebuni. Wobei die Positionen 1 und 2 sowie 3 und 4 jeweils dicht beieinander liegen, dazwischen aber eine große Lücke klafft.
Aber auch die hohe Kultur stand auf dem Programm. Das Opernhaus von Yerevan galt schon zu Sowjetzeiten als renommiert (wenn auch weitgereiste Einheimische sagen, dass man mit Moskau nicht mithalten könne). So besuchte ich zunächst die Oper “Arshak II” von Tigran Chukhadzhyan, basierend auf der Geschichte des im 4. Jahrhundert herrschenden Perserkönigs. Ein wunderbares Werk. Ich bin ja nicht gerade als Opernfreund bekannt, aber die Vorstellung hat mich wirklich begeistert. Der Komponist mag jetzt nicht jedem was sagen, aber die Armenier haben tatsächlich einige große Künstler hervorgebracht. So stammt auch der berühmte Säbeltanz aus armenischer Feder (Aram Khatchaturian). Weitere Prominente armenischer Herkunft: Gari Kasparow, Andre Agassi, Charles Aznavour, Cher, Kirk Kerkorian, Alain Prost, System of a Down.
Meine neugewonnene Begeisterung für die Oper veranlasste mich, einige Tage später auch eine Inszenierung von Giuseppe Verdis “La Traviata” zu besuchen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich derart dafür begeistern kann. Aber das ist eben ganz anders als im Fernsehen… Tolles Bühnenbild, wunderbarer Gesang, prachtvolle Kostüme, komplettes Orchester, alles was dazugehört. Keine halbe Sache, wie man bei den Ticketpreisen vermuten könnte. Die teuersten Plätze kosten sage und schreibe mal sechs Euro – die Eintrittspreise wurden wohl seit Jahrzehnten nicht erhöht. Auch das Philharmonische Orchester habe ich mir nicht entgehen lassen. Unter Leitung des georgischen Gastdirigenten Vadim Shubladze gab es Werke von Wagner, Schubert und Beethoven zu hören. Ein schöner Abschluss am letzten Abend vor meiner Rückreise.
Aber zurück zu meiner Reisetätigkeit. Nach einer Woche in Yerevan und diversen Tagesausflügen machte ich mich auf in den Süden in die Region Syunik. Die Fahrt an meinen Zielort Sisian dauerte etwa vier Stunden und führte über einige Gebirgspässe, wobei am Vorotan-Pass auf 2344m noch Schnee lag. Ich teilte den komfortablen Mercedes Sprinter mit einer Gruppe junger Soldaten auf dem Weg nach Nagorny Karabach, wovon einige englisch sprachen und einer sogar ein wenig deutsch. Die Rekruten hatten ebenso wie der Fahrer sichtlich Spaß mich aufzuziehen (“you come to Karabagh with us, join the Army”). Da ich aber andere Pläne hatte, musste ich ihnen leider eine Absage erteilen.
In Sisian angekommen checkte ich ins Hotel Dina ein, und wie mir erst hier wirklich bewusst wurde, gab es auf dem Land nicht viel. Abgesehen von Wanderungen durch die Natur konnte man sich kaum die Zeit vertreiben. Zumindest hatte ich ein Hotelzimmer, das sauber und angenehm war, und wo man sich irgendwie in alte Sowjetzeiten zurückversetzt fühlte (auch wenn ich das selbst nie erlebte). Und eine Gaststätte am Fluss, wo eine Speisekarte überflüssig war, da es ohnehin nur gegrilltes Schweinefleisch gab, welches eher minderer Qualität war, sodass ich mich am Folgetag mit Käse, Tomaten und Fladenbrot vom Markt selbst versorgte. Nach 18 Uhr wurden die Bürgersteige hochgeklappt, und das ohnehin langweilige Städtchen vermittelte dann eher den Eindruck einer Geisterstadt.
Die Empfangsdame vom Hotel war mir bei der Beschaffung eines Taxis für den nächsten Tag behilflich. Für einen Tagestarif von rund 20 Euro hatte ich also einen Fahrer und wir begaben uns auf den Weg in die Berge zu einer der größten Attraktionen des Landes, dem Kloster von Tatev, das sich in einer abgelegenen Region auf einem Berggipfel befindet. Wie viele der alten Kirchen und Klöster im Lande stammt auch dieses aus dem 8. Jahrhundert. Die Fahrt dorthin führte uns über eine der übelsten Pisten des Landes, mit teilweise von Erdrutschen und Steinschlägen malträtierten Serpentinen, ungeteerten Abschnitten und Schlaglöchern, die eher die Bezeichnung Krater verdienten.
Garik, mein Fahrer, beherrschte aber seinen alten Wolga wie kaum ein anderer, und die Aussicht war nach jeder Kurve immer wieder überwältigend. Auf dem Rückweg hielten wir noch bei Karahunj, dem “armenischen Stonehenge”, einem Ensemble von rund 200 in Kreisform platzierten Steinblöcken, die jeweils 2-3 Meter groß sind und die etwa aus der Zeit um 2000 v. Chr. stammen. Genauerer Zweck und Bestimmung sind bis heute unbekannt. Die meisten weisen circa 5 cm große, kreisrunde Löcher auf, die aber nach heutigen Erkenntnissen für eine etwaige Sternenbeobachtung ungeeignet gewesen waren. Eventuell handelte sich einfach um eine heidnische Kultstätte. Trotz fehlender Erklärung (oder gerade deswegen) ein faszinierender Ort.
Nach drei Tagen im Süden, wo es überraschend kühl war, ging es für mich dann wieder zurück ins mittlerweile richtig sommerliche Yerevan. Ich war froh wieder in meiner komfortablen Unterkunft bei Anahit angekommen zu sein. Die Atmosphäre dort erinnerte eher an eine Wohngemeinschaft als an eine Pension oder gar ein anonymes Hotel.
Wiederum ergab sich ein gemeinsamer Abend mit den anwesenden Übernachtungsgästen und unserer liebenswerten Vermieterin, die uns diesmal an einen ganz besonderen Ort führte. Am südlichen Ende der Stadt wird Yerevan durch eine Schlucht von den dahinterliegenden Stadtteilen getrennt. Folgt man dem Weg in die Schlucht, wähnt man sich binnen weniger Minuten in wildester Natur. Rundherum alles grün, der Fluss rauscht nebenan und inmitten dieser Szenerie befindet sich ein grandioses Lokal im Freien, Biergartenatmosphäre, wiederum mit Livemusik und Tanzfläche, wo die Nacht zum Tag gemacht wird. Das Essen ist hervorragend und wesentlich günstiger als in der Stadt. Mit fünf, sechs Leuten am Tisch kann man getrost einmal die Speisekarte rauf und runter bestellen und alles mal probieren. Das Brot (Lavash) wird vor Ort traditionell im Erdofen zubereitet (nach dem Prinzip des indischen Tandoor), und man wünscht sich, der Abend würde nicht zu Ende gehen.
Am nächsten Tag standen weitere Besichtigungen in Yerevan auf dem Programm: zum einen das Genozid-Mahnmal und Museum (mit ergreifenden zeitgeschichtlichen Dokumenten und Fotografien aus der Zeit des Völkermords) sowie das Manuskript-Museum (Matenadaran), welches uralte illustrierte Bibelübersetzungen und kostbare Schriftstücke in Handschrift beherbergt (darunter auch Dekrete von Napoleon und aus der russischen Zarenzeit).
Gegen Mitternacht (3 Stunden Zeitunterschied zu Mitteleuropa) hatte ich dann das zweifelhafte Vergnügen, das Champions-League-Finale per Satellit ausgerechnet auf dem italienischen Sender Rai Uno zu sehen. Nicht nur weil ich Liverpool die Daumen drückte, gingen mir die ständigen Lobeshymnen, wie toll denn die Mailänder seien (auch wenn ich nicht viel italienisch verstehe) ziemlich schnell auf die Nerven. Noch dazu war deren erstes Tor irregulär, da der Ball klar von Inzaghis Arm abgefälscht wurde. Sei’s drum. When you walk through a storm, hold your head up high!
Über den Ausgang der Deutschen Meisterschaft konnte ich mich aufgrund fehlenden Internetzugangs in der Provinz nur zwei Tage zeitversetzt informieren. Aber das war eher nebensächlich, und Stuttgart ist im Vergleich zu Schalke vielleicht das kleinere Übel, auch wenn es Schwaben sind. Genug dazu. Ich weiche vom eigentlichen Thema ab…
Am Donnerstag vor meiner Abreise beschloss ich letztendlich doch noch, an einer von den lokalen Reiseveranstaltern durchgeführten Touren teilzunehmen. Bislang war ich ja ganz gut alleine zurecht gekommen, aber der Vorteil eines organisierten Ausflugs ist eben, dass man ohne Umwege und Zeitverlust mehrere Zielorte und Sehenswürdigkeiten in kurzer Zeit “abhaken” kann. Es sollte an diverse Orte in den Provinzen Lori und Tavoush (Nord/Nordost) gehen.
Ich komme also morgens gegen halb zehn ins Büro des Veranstalters Sati Travels, wo die Reise um zehn losgehen soll. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich der einzige angemeldete Teilnehmer. Da dachte ich schon, dass das ganze im letzten Moment noch ins Wasser fällt. Aber nein, kein Problem, die Fahrt findet auf jeden Fall statt! Somit hatte ich also ein Fahrzeug, einen Fahrer, und zwei junge Sprachstudentinnen als Tour Guide allein für mich. Sowohl mit dem Fahrer als auch mit Gayane und Zaria verstand ich mich blendend und wir verbrachten einen wunderschönen Tag in der wohl schönsten Ecke des Landes. Der Fluss Debed durchzieht die Region, die von imposanten Canyons, Wäldern und Bergen geprägt ist (lokal übrigens als “armenische Schweiz” angepriesen).
Die 10-stündige Tagesreise gestaltete sich also sehr angenehm und vor allem exklusiv, und war für 20 Euro inkl. ausgiebigem Mittagessen noch dazu sehr preiswert. Amüsant fand ich vor allem die Begegnung mit rund 40 Studienreisenden aus Frankreich, die sich an einem der Aussichtspunkte gerade aus ihrem Bus quälten und wohl alles teuer zuhause beim Reiseveranstalter gebucht haben. Und die mich dabei ansahen, was ich denn wohl hinblättern muss, um solchen Service zu bekommen…
Abschließend kann ich Armenien allen als Reiseziel uneingeschränkt empfehlen. Die Menschen sind herzlich, offen und sehr hilfsbereit. Armenisch- oder Russisch-Kenntnisse sind grundsätzlich von Vorteil. Wenn man aber weder das eine noch das andere beherrscht (wie ich), werden umgehend alle Hebel in Bewegung gesetzt, um schnellstmöglich jemanden herbeizuholen, der weiterhelfen kann. Unterwegs begegnet man beispielsweise immer wieder mal alten Leuten, die zu Sowjetzeiten deutsch gelernt haben und sich jetzt wie ein Schnitzel freuen, dass endlich mal einer kommt, bei dem sie ihre Kenntnisse anbringen können.
Ein weiterer großer Vorteil: Es wird nicht versucht einen zu übervorteilen. Das Wechselgeld stimmt immer, bei Busfahrten zahlt man ohne feilschen zu müssen den regulären Fahrpreis, und fast nirgendwo (mit der Ausnahme von Japan) fühlte ich mich so sicher wie hier. Es gibt quasi keine Straßenkriminalität – lediglich beim Überqueren der Straße sollte man ein wenig mehr als zuhause auf den Verkehr aufpassen – aber man kann sich auch nachts unbeschwert allerorts fortbewegen.